Schamgefühl ist erwiesenermaßen eine erlernte Kulturtechnik.
Man schaue sich nur mal außereurasische indigene Völker an:
Diese haben vielfach Kleidungstraditionen, die die im hiesigen Kulturkreis schambehafteten Körperteile - Genitalien, Gesäß, weibliche Brust - ganz oder teilweise unbedeckt lassen, Dafür fühlen sie sich aber ohne z. B. bestimmte Schmuckstücke, Tätowierungen o. ä. bloßgestellt, erniedrigt, verletzlich usw.
Und vom Aufwachsen mit zwei jüngeren Brüdern weiß ich, dass unter Jungs die Frage nach der Länge des Penis bereits sehr früh eine sehr große Rolle spielt, schon lange bevor sie seine Funktion und Bedeutung eigentlich wirklich erfassen und verstehen können. Wahrscheinlich sind sie deshalb mitunter zurückhaltender damit, sich untereinander sowie gegenüber Erwachsenen nackt zu zeigen. (Denn von letzteren kommen ja die Sprüche über Länge ursprünglich, warum sollte sie Kindern von sich aus etwas bedeuten?)
Für mich hingegen war meine Scheide, genau wie die anderer gleichaltriger Mädchen auch, bis zu meiner ersten Masturbation in der Pubertät eine Art "terra incognita", mit der ich nicht wirklich etwas anfangen konnte.
Stattdessen hatte ich einfach von klein auf die hiesigen gesellschaftlichen Regeln zum Thema Nacktheit gelernt und verinnerlicht, indem sie auf mich angewendet, mir vorgelebt, und/oder altersgerecht genannt und erklärt wurden.
Ich wusste, wo es warum in Ordnung war, jeweils wie viel weniger oder was anderes anzuhaben als mindestens ein T-Shirt, Sweatshirt, Pullover o. ä. und eine Hose oder einen Rock (alternativ als Mädchen: ein Kleid), und an diese Regeln wollte ich mich auch selbst halten, schon weil ich mich ja vor anderen Kindern und Erwachsenen nicht lächerlich machen wollte.
(Mit Warnungen vor "komischen Männern", die sich "gerne Kinder in Unterwäsche, Badesachen oder nackt angucken", und derentwegen meine Brüder und ich unsere Oberbekleidung nur ausziehen bzw. Badesachen nur tragen sollten, wenn ein erwachsener Familienangehöriger, ein Elternteil eines Freundes o. ä. zumindest in Rufweite waren, konnte ich meiner Erinnerung weniger anfangen. Jedenfalls hat mir das meine ich keine bewusste Angst gemacht, oder so, ich hatte es mir eben bloß gemerkt.)
Bei meinen kindlichen Beobachtungen der Regeln, Konventionen und Praktiken der Be- und Entkleidung entging mir ein besonderes, für mich schon früh sehr interessantes Detail allerdings nicht:
Damals, d. h. Mitte/Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre, zogen manche jungen Frauen an den westdeutschen Nord- und Ostseestränden ihre Bikinioberteile aus, und zeigten ihren Busen!
Nicht alle, vor allem die "älteren" (Alter meiner Mutter und darüber) nicht, und eben auch nur am Strand, nicht aber zum Beispiel im Hallenbad.
Für eine ungefähr Fünf- bis Neunjährige war es sicherlich ein ziemlich gratismutiger Vorsatz, das später einmal auch so machen zu wollen, hatte ich doch noch keinerlei eigene Vorstellung von all den Gefühlen, die eine Frau und ihren Busen verbinden, seiner sexuellen Bedeutung usw.
Stattdessen begann ich, dieses Verhalten schon vorpubertär zu imitieren, indem ich am Strand - und eben nur dort, im Hallenbad oder so war das ja nicht üblich - nur noch ein Bikinihöschen trug. (Was meine Eltern mir meiner Erinnerung problemlos erlaubten.)
Ganz nackt am Strand herumzulaufen war meiner damaligen Meinung hingegen "was für Babys", denn bei deutlich jüngeren Kindern war das durchaus zu sehen, aber eigentlich schon nicht mehr bei ungefähr Gleichaltrigen, und erst recht nicht bei meinen erwachsenen Vorbildern.
Andersherum hätte ich es genauso komisch gefunden, beim abendlichen gründlichen Waschen, Duschen oder Baden - im Sommer, nach Nachmittagen oder Tagen im Garten, auf dem Spielplatz oder im Urlaub am Strand quasi täglich, im Winter zumindest regelmäßig etwa einmal pro Woche - anders als natürlich vollständig nackt neben dem Waschbecken bzw. in der Badewanne zu stehen bzw. zu sitzen. Auch vor oder mit meinen Brüdern, oder bei Übernachtungsbesuchen gemeinsam mit gleichaltrigen Freunden, auch Jungs, auch in deren Badezimmern und vor deren Eltern.
Der Ort (Badezimmer), der Anlass (Körperpflege) und die Anwesenden (Familie, gleichaltrige Freunde oder vertraute und vertrauenswürdige Erwachsene) stimmten für mich sämtlich, also hatte ich an der Situation nichts auszusetzen.
Mein Umgang mit meiner eigenen Nacktheit war bis zu meiner Pubertät von erlernten Regeln und Gewohnheiten geprägt, nicht von inneren Gefühlen.
Wobei es unter meinen Kindheitserinnerungen allerdings doch auch ein Fragment gibt, das sich jedenfalls zunächst nicht recht in diese insgesamt unkomplizierte und pragmatische Einstellung einordnet:
Mit wenn ich es zeitlich richtig einordne ungefähr sechs Jahren habe ich nämlich bei einer Vorsorgeuntersuchung bei meiner Kinderärztin wegen des Ausziehens - genau gesagt wohl, weil ich auch das Unterhöschen hatte ausziehen müssen, oder es mir ausgezogen worden war - mal ganz schlimm geweint.
Davon sind in meiner Erinnerung aber nur noch zwei Bilder erhalten, von denen ich auch nicht sicher weiß, ob sie seit jenem Tag immer da, oder zwischenzeitlich auch mal verschwunden waren, und später wiedergekommen sind:
Im ersten Bild liege ich jedenfalls in einem Untersuchungszimmer in der Praxis meiner damaligen Kinderärztin vollständig nackt auf dem Rücken auf der Untersuchungsliege, halte die Hände über meinem Schritt gekreuzt, und weine sehr heftig.
Im zweiten Bild sitze ich anschließend wieder in unserem Familienauto auf dem Rücksicht, und werde von meinen Eltern ausgeschimpft wegen "dieses Theaters gerade da drin" (dieses Satzfragment meiner Mutter habe ich noch sehr deutlich im Ohr).
Offensichtlich wollte ich in diesem Moment meine Schamlippen, und/oder was hinter ihnen lag, unbedingt und verzweifelt vor Blicken und/oder Berührungen schützen.
Das war zunächst insofern bemerkenswert, als dass ich in diesem Alter wie oben bereits gesagt noch gar Beziehung zu, genau gesagt ja noch nicht einmal irgendeine Vorstellung von dem hatte, was hinter ihnen lag.
Wobei, das stimmt so dann doch nicht ganz:
Längst hatte ich auch in diesem Alter schon erotische Fantasien, von barbusigen oder nackten Frauen am Strand, im Badezimmer u. ä. Und dass das Pochen und Kribbeln, das diese Fantasien in meinem Körper auslösten, ihren Ursprung und ihr Zentrum irgendwie in meiner Scheide hatten, war mir sehr wohl bewusst - auch wenn nähere physische Nachforschung danach niemals auch nur ein Gedanke war.
Natürlich war es mein Geheimnis, dass ich diese Fantasien hatte, denn irgendwie sagte mir mein Gefühl, die Erwachsenen würden das nicht verstehen, oder nicht gut finden. Hatte ich also vielleicht Angst, dass die Ärztin irgendwie etwas darüber herausfinden könnte, wenn sie meine Scheide untersuchte? (Sozusagen die zehn Jahre jüngere Version der Frage an Dr. Sommer: "Merkt der Frauenarzt, dass ich mich selbst befriedige?")
Logischerweise kann jedenfalls nur sie es gewesen, vor der ich meine Scheide schützen wollte:
Meine Eltern - waren sie beide im Untersuchungszimmer anwesend? Ich meine ja - und meine Brüder - waren sie auch dabei? Ich weiß es nicht mehr. Wenn sie es nicht waren, wo waren sie dann? Mit vier und drei Jahren sicherlich nicht allein zuhause, aber vielleicht bei unseren Großeltern? - sahen meine Scheide bzw. genau gesagt meine Schamlippen sowieso regelmäßig, ohne dass mir das wie oben beschrieben etwas ausmachte.
Meine erste Kinderärztin sehe ich noch genau vor mir, eine ältliche Spinatwachtel mit gestrenger Frisur. Ich mochte sie nicht, und sie mich wohl auch nicht, weil sie glaube ich generell keine Kinder mochte, und nicht mit ihnen umgehen konnte. Klarer Fall von Beruf verfehlt, aber sonderliche Auswahl gab es auf dem Dorf damals eben nicht.
Irgendwann nahm sie noch eine junge, sehr hübsche und liebe Ärztin mit in ihre Praxis auf - wie diese mir später irgendwann einmal erzählte, anfangs noch zur Facharztausbildung nach ihrer Approbation. Von ihr habe ich mich immer gerne untersuchen und behandeln lassen, weil ich sie sehr gerne mochte.
Sie war es auch, die später meine J1-Untersuchung durchgeführt hat, bei der ich von Anfang bis Ende sehr tapfer und kooperativ war, und dafür auch sehr von ihr gelobt wurde.
Hatte das vielleicht auch irgendwie damit zu tun, dass sie sich tatsächlich noch daran erinnern konnte, dass ich vor Jahren gegen eine ähnliche Untersuchung noch verzweifelten Widerstand geleistet hatte?
Wenn ja, wusste sie davon, weil sie zu dieser Zeit zumindest schon in der Praxis tätig, oder bei meiner Untersuchung sogar dabei gewesen war? Oder hatte die Spinatwachtel dazu etwas in meiner Patientenakte notiert, dass dort auch rund neun Jahre später (!) immer noch zu lesen stand?
Zumindest bin ich mir sehr sicher, dass nach diesem - fairerweise gesagt wohl sicherlich für alle Beteiligten - sehr unerfreulichen Untersuchungstermin bis zur J1 keinerlei Untersuchungen dieser Art mehr stattgefunden hatten.
Waren sie für die folgenden Lebensjahre, bis in die mittlerweile dann Teenagerzeit, ganz einfach nicht mehr vorgesehen? Hatten meine Eltern sie mir erspart, weil sie rückblickend doch Verständnis für meinen Widerstand dagegen hatten? Oder hatte die Spinatwachtel sich fortan geweigert, solche Untersuchungen an mir durchzuführen? Ich werde es wohl nie mehr erfahren.
Aber vielleicht gibt es hier zumindest einen Psychoanalytiker, der mit diesem bruchstückhaften Erlebnisbericht, und seinem Kontrast zu meiner allgemeinen Einstellung gegenüber Nacktheit im entsprechenden Lebensabschnitt etwas anfangen kann?