Zitat
Original von eti
Ich meine aber, dass die geschlechtliche Orientierung in den Genen verankert und durch Erziehung etc. nicht umpolbar ist. Wenn Umorientierung durch Einwirkung von aussen möglich wäre, hätten wohl viele Eltern ihre homosexuellen Buben beizeiten in das "richtige" Fahrwasser gelotst.
Dieser Irrtum ist weit verbreitet und wird leider sogar von einigen fabelhaften Wissenschaftlern unterstützt. Dabei ist es sehr einfach, der Sache auf den Grund zu kommen: Genetisch verankerte Merkmale sind unveränderlich. Die Augenfarbe zum Beispiel, der allgemeine Körperbau oder leider auch genetisch bedingte Erkrankungen. Sexualität an sich, d.h. also Triebbefriedigung überhaupt anzustreben, zählt sicher auch dazu.
Wie diese Triebbefriedigung praktisch ausgeübt wird, ist ein erlerntes/erlernbares Verhalten. "Von Haus aus" ist der Mensch da überhaupt nicht festgelegt. Sexuelle Präferenzen werden aber weniger durch einzelne Einflüsse gebildet als durch das Entstehen von Gewohnheiten. Dann gibt es Menschen (eine große Mehrheit, aber keine übermäßige, wie wir seit den 1950er Jahren und dem Kinsey-Report wissen), die bleiben dabei - unter anderem, weil die Gesellschaft selbst heute den Wechsel nicht gerade fördert. Man bleibt bei seiner Verhaltensweise, nicht anders, als die meisten Menschen beim Fußball bleiben und nicht plötzlich Eishockey oder Volleyball spielen möchten, wenn sie diese Sportart eben nunmal für sich entdeckt haben.
Wie eben der Kinsey-Bericht gezeigt hat, ist aber die wirklich absolut und in der gesamten Biografie singulär bleibende Form des Sexualverhaltens eher eine Ausnahme. Mindestens unterdrückte Wünsche nach "Abwechslung" sind häufig. Ein sexual variables Verhalten, zumindest starke Experimentierphasen, sind absolut nicht ungewöhnlich. Ich kenne genügend selbst identifizierte Schwule, Lesben und Heteros, die mir gegenüber schon Interesse oder Praxis der jeweils anderen Sexualität geäußert haben - und auch ein paar Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
Dass diese Variabilität nicht häufiger und stärker zum Ausdruck kommt, liegt zum einen eben daran, dass man gewöhnlich eben bei etwas bleibt, das Spaß macht. Siehe das Fußball-Beispiel. Zum anderen aber an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Sexuelle Peer-Groups bilden Subkulturen, und da ist die Abschottung eine beiderseitige: Wenn man mal drin ist, wird das Rauskommen stark behindert, da es im Zweifelsfall mit dem Verlust des sozialen Umfelds geahndet wird. Eine Lesbe zum Beispiel, die sich plötzlich mit einem Mann zeigt, kann ihre bisherigen Freundinnen und Treffpunkte vergessen. Sie wird fast so etwas wie eine Geächtete. Sie wird - und das ist scheinbar eher die Regel als die Ausnahme - den Mann trotzdem treffen, aber es wird weitaus heimlicher geschehen als eine Hetero-Frau in ihrem Hetero-Umfeld mit einer überraschenden lesbischen Beziehung umgeht.
Dazu kommt allerdings, dass diese Subkulturen (zumindest die einigermaßen akzeptierten) heute zunehmend Auflösungerscheinungen zeigen. Man kann heute zumindest in Westeuropa sein sexuelles Verhalten viel freizügiger ändern, Neues ausprobieren und auch recht eigentümliche Vorlieben ausleben, als das noch vor 10, 15 Jahren möglich war. Und dann sind die Medien ja voll von Beispielen, selbst wenn manche Sachen sich langsamer durchsetzen als andere.
Was nun das "Lotsen ins andere Fahrwasser" betrifft, so wird das leider immer noch häufig genug versucht, wobei ich persönlich denke, dass es heute doch mehr und mehr aus der Mode kommt. Früher dagegen - zunächst hat das schon deswegen meistens ganz schlecht funktioniert, weil die Leute eben nicht wussten oder akzeptieren konnten, wie die Libido sich eigentlich bildet, vor allem eben durch positive Reize. Schläge und Elektroschocks zählen da sicher nicht dazu. Außerdem haben's diese Eltern ja meistens auch gar nicht frühzeitig genug mitbekommen. Ferner hat es auch genug Fälle gegeben, wo das geschehen ist und in gewissem Umfang erfolgreich war. Ein Schulkamerad von mir hat sich damals als schwul geoutet, wurde dann vom Stiefvater mit recht üblen Mitteln "ins andere Fahrwasser gelotst", war danach eine Weile sehr intensiv mit Frauen jeden Alters zugange ... und hat sich am Ende mit Drogenkonsum mehr oder weniger zielgerichtet umgebracht.
Nein. Der Wunsch bzw. die These, sexuelles Verhalten sei genetisch bestimmt, entspricht dem viel grundlegenderen Hang des Menschen nach "geordneten Verhältnissen". Jedes Ding an seinem Platz - und das ist nicht mal wertend gemeint. Doch das ist eben ein verhängnisvoller Irrtum. Sexualität ist eine durch und durch chaotische Veranstaltung, und das ist auch gut so.
Ich weiß, dass ich eti mit diesem kleinen Exkurs kaum überzeugen werde. Doch es lesen ja noch andere mit, und da soll diese Legende von der genetischen Prägung nicht unkommentiert stehen bleiben.
Nico S.