Inzest straffrei?

  • Tja... das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist wirklich nicht hilfreich.... mit einer Urteulsbegründung:
    "Die Moral und Rechte anderer zu schützen, wie es das deutsche Strafgesetz vorsehe, indem es freiwilligen Sex zwischen erwachsenen leiblichen Geschwistern verbiete.
    In dieser Frage gebe es in den Mitgliedsländern des Europarats keinen Konsens, stellten die Straßburger Richter fest. Somit stehe den deutschen Behörden ein "weiter Beurteilungsspielraum" zu."


    Solange man nicht in ganz Europa (nicht nur EU, der Europarat ist deutlich größer) einer Meinung ist, darf jeder Staat Gesetze in Kraft belassen, deren einziger Zweck darin besteht, seinen Bürgern zum Schutz der "allgemeinen Moral" ins Schlafzimmer reinzureden? Anfang der 70 wären "Moral und Rechte ANDERER" ein perfektes Argument für das Verbot von Homosexualität gewesen... die europäische Rechtsprechung ist leider wie es aussieht auch keineswegs darüber hinweg, die eigene Moralvorstellung in Gesetze gießen zu wollen....

    Ich war nicht wirklich nackt. Ich hatte nur nichts an! (Josephine Baker)

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  • Lieber Nico!


    Hast Du das Urteil gelesen oder nur die Pressemitteilungen dazu?
    zB

    Und wenn, dann wenigstens die des EGMR?


    Es ist sehr schwierig, nur aufgrund der Kenntnis des Ergebnisses (Urteilsspruch) die Begründung eines Urteils zu bewerten.


    ME stellt der EGMR nur fest, daß §173 (2) (d)StGB den Art 8 der EMRK nicht verletzt.


    Das Gesetz gibt es (s.o.) nicht nur in Deutschland:


    § 173, Absatz 2 des deutschen Strafgesetzbuches verbietet den Beischlaf leiblicher Geschwister miteinander und bedroht diese Tat mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bzw. einer Geldstrafe. Zur Tatzeit Minderjährige bleiben dabei straffrei. Im österreichischen Strafgesetzbuch gilt laut dem „Blutschande“-Paragrafen 211, Absatz 3 für das gleiche Delikt eine Strafandrohung von bis zu sechs Monaten.



    Der Einzelfall zeigt ja gerade auch die Problematik einer Liebesbeziehung zwischen Geschwistern, der (behinderte) Kinder entspringen. Schon aus generalpräventiven Gründen billlige ich dem Strafgesetzgeber zu, Geschlechtsverkehr zwischen leiblichen Geschwistern unter Strafe zu stellen. Wie wir wissen, sieht das das BVerfG und nunmehr der EGMR auch so.


    baer

    Lector, intende,
    laetaberis!
    (Lieber Leser, paß auf, Du wirst Deinen Spaß haben! – Apuleus)

  • Die Argumentation mit den behinderten Kindern bringt dich aber auf VERDAMMT gefährliches Terrain.


    Wenn der Staat Geschwistern verbietet, Sex zu haben, weil die Nachkommenschaft behindert sein KÖNNTE, kann er (und wenn er konsequent wäre, müsste er sogar) mit der gleichen Rechtfertigung auch Körperbehinderten Sex generell verbeiten, solange die Behinderung genetisch bedingt ist.
    Er könnte mit der gleichen Berechtigung Gentests von GESUNDEN verlangen, um rezessive Anlagen zur Körperbehinderung festzustellen und deren Trägern verbieten Sex mit Menschen zu haben, die die gleichen schlummernden Gene haben.


    Und wie steht es mit Verhütung? Wer hat denn heute Sex primär zum Kinderzeugen? Dürfen Geschwister Sex haben, wenn sie versprechen zu verhüten? Oder müssen sie sich vorher sterilisieren lassen, um sicher zu gehen?


    Mal ganz abgesehen davon, dass "das Kind könnte behindert sein" heute ja wohl nun kein Argument mehr sein kann, dass ein Kind nicht auf die Welt kommen darf - ich bin mir ziemlich sicher, die meisten Behinderten sind trotzdem ganz froh, dass man ihren nicht vor Empängnis das Recht zu leben abgesprochen hat.


    Womit ich dir nicht unterstellen will, Baer, dass du diese ganzen dinge mit willst, aber wenn man damit anfängt, fremden menschen mit der Argumentation Sex zu untersagen, schwimmt das im Kielwasser alles mit.
    Und ich hoffe auch, die meisten Befürworter des Inzestverbotes wollen DAS alles nicht.... was das "behinderte Kinder"-Argument für mich zu einem Strohmann-Argument macht, um eine "wissenschaftliche" Begründung für eine subjektive moral-basierte Gesetzgebung zu haben.

    Ich war nicht wirklich nackt. Ich hatte nur nichts an! (Josephine Baker)

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  • Nein, minski, ich argumentiere nicht mit behinderten Kindern!


    "Der Einzelfall zeigt ja gerade auch die Problematik einer Liebesbeziehung zwischen Geschwistern, der (behinderte) Kinder entspringen."


    Ich erzähle lediglich den konkreten Sachverhalt:


    "Der aus einem gewalttätigen Elternhaus stammende Patrick S. wuchs in einer Pflegefamilie auf, die ihn adoptierte. Er lernte erst mit 24 Jahren seine sieben Jahre jüngere Schwester Susan K. kennen, von deren Existenz er nichts gewusst hatte. Zwischen den Geschwistern entwickelte sich eine Liebesbeziehung, aus der zwischen 2001 und 2005 vier Kinder hervorgingen. Zwei der Kinder sind behindert."



    "Das Urteil bescheinigt den deutschen Gerichten, den Fall juristisch korrekt behandelt und bewertet zu haben. Aber jenseits der rechtlichen Perspektive stellt sich die Frage, ob das Strafrecht das richtige Instrumentarium ist, um mit dem Thema Inzest umzugehen", sagte Professor Hans-Jörg Albrecht, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.



    mwN


    baer

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  • Wäre das Verhindern der Geburt behinderter Kinder grundsätzlich eine staatliche Aufgabe, dann könnte man sich rein formal mit dem Paragraphen und der Urteilsbegründung zufrieden geben. Doch das ist heute nicht (mehr) der Fall. Folglich ist das kein Thema für eine gesetzliche Beschränkung, völlig unabhängig von irgendwelchen Einzelfällen. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit z.B. ist eine staatliche Aufgabe, und angesichts der Zahl verfügbarer Einzelfälle müsste nach dieser Logik z.B. das Führen von Kraftfahrzeugen ebenfalls verboten sein.


    Dass der EuGH sich da um eine eigenständige Entscheidung gedrückt hat und auf die nationale Zuständigkeit verweist, dürfte vor allem politische Gründe haben. Es sind z. Zt. mehrere Themen angängig (u.a. das der Vorratsdatenspeicherung), bei denen Deutschland und der EuGH in einer schwierigen Situation stehen miteinander. Ich denke, da wollte man einfach kein zusätzliches Fass aufmachen.


    Meine Forderung (wenn ich denn die Zeit und Lust hätte, das öffentlich zu machen), den Paragraphen 173 endlich abzuschaffen, würde sich auch an den Gesetzgeber richten - dieses Urteil bietet lediglich einen aktuellen Diskussionsanstoß. Zumindest gibt es im Moment bei uns eine Partei, die sich anschickt, solche alten Zöpfe endlich abzuschneiden.


    Nico S.

  • Es tut mir leid, Nico, aber wir argumentieren hier auf verschiedenen Ebenen. Der EGMR darf in so einem Fall nur prüfen, ob die nationale Regelung oder das Verfahren der EMRK widerspricht und in so einem Fall den Mitgliedsstaat verurteilen.


    In der Sache ist der nationale (Strafrechts)Gesetzgeber zuständig. Also in Deutschland Bundestag und Bundesrat.


    Die Einzelfallbeschwerde nach Straßburg wird leider oft mißbraucht (Jeder einigermaßen prominente Häftling beschwert sich über überlanges Verfahren). Schon das BVerfG ist kein Übergesetzgeber und der EGMR schon gar nicht.


    Aber das ist wohl zu spitzfindig und vielleicht eher etwas für Juristen... :rolleyes:


    baer

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  • Es ist so, hier wird auf verschiedenen Ebenen und damit völlig unsachlich diskutiert.


    Der EGMR hatte nicht die Aufgabe, dieses Gesetz im Einzelnen zu überprüfen. baer hat dies sehr anschaulich erklärt. Es gibt daher auch keinen Grund, dieses noch berufungsfähige Urteil zu kritisieren. Ganz im Gegenteil, der EGMR musste, rein europarechtlich, genausso entscheiden - dies stand schon lange vorher fest.


    Und politisch war dieses Urteil mit absoluter Sicherheit auch nicht. Es ist müßig, hier die Unabhängigkeit der Gerichte anzusprechen. Mir scheint, als hätten die Gegner des Inzestparagraphen generell ein Problem mit der Legislative und der Exekutive hier in unserem Land oder gar in unserem Europa. Dazu gibt es, so sieht es unser Grundgesetz vor, freie Wahlen. Ein jeder mag dort seine Partei wählen. Wenn es sein muss sogar eine, die sich auf Inzest und absolute Freiheit im Internet konzentriert. Es bleibt allerdings die Frage, ob dies eine weise Entscheidung wäre.


    Die Judikative, also die Gerichte im Allgemeinen, kann nur über das entscheiden, was der Gesetzgeber vorgibt. Es ist also reine Polemik oder zumindest Unwissenheit, hier von einem schändlichen oder gar einem politischen Urteil zu reden.


    Ich stimme baer daher auf breiter Basis zu.


    Aber um es nochmals klar und deutlich zu sagen, das BVerG hob in seinem Urteil von 2008 nicht ausschließlich auf Erbschäden ab:


    Zitat

    "Zudem diene das Inzestverbot dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. § 173 habe spezifische, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten im Blick."


    Sich hier allein auf die Erbschädenerklärung des höchsten deutschen Gerichts zu beschränken, ist Scheuklappendenken und einfach nur billig.


    Zudem entschied das BVerG mit einer Mehrheit von 7:1 Stimmen. Sollten wir vielleicht eine diesbezügliche Minoritätendominanz mit etwaigem Volksabstimmungscharakter ins GG verankern?


    Es wird, Piraten im Bundestag oder nicht, keine Aufhebung des § 173 StGB in absehbarer Zeit geben. Aber es wird eine Novellierung kommen, mit denen sicher wieder nicht alle einverstanden sein werden. Das wiederum, liebe Leute, ist aber Demokratie - ein jeder darf darüber denken, was er will, tun darf er rein rechtlich nur das, was nicht verboten ist. Und das ist auch gut so.


    Anarchische, vielleicht auch nur unbedachte und/oder unwürdige Kommentare wie


    Zitat

    Was nutzt grundsaetzlich die Strafbarkeit von irgendetwas? Bekanntlich werden selbst Verbrechen, auf die die Todesstrafe steht, in den betreffenden Laendern froehlich weiter veruebt. (Nico S. hier im Thread)


    bringen uns da kein bisschen weiter. Sachlichkeit ist gefragt!

    Die begehrenswerteste aller Frauen ist die, mit der ich weinen kann.



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  • Zitat

    Original von mausbacher
    Ich stimme baer daher auf breiter Basis zu.


    Aber um es nochmals klar und deutlich zu sagen, das BVerG hob in seinem Urteil von 2008 nicht ausschließlich auf Erbschäden ab:



    […]
    Sachlichkeit ist gefragt!


    Na dann bleibe ich sachlich und sage: Wenn der Gesetzgeber beim Inzestverbot tatsächlich „spezifische, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten im Blick“ hätte, dann hätte er alle Arten der sexuellen Betätigung unter Verwandten verboten und nicht nur den vaginalen Geschlechtsverkehr, der allein dazu dienen kann, Kinder zu zeugen.


    Daraus folgt: Der Gesetzgeber hatte allein die Blutschande im Blick, zumal für den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung (auch in der Familie!) andere Paragraphen zuständig sind.


    In dieser Angelegenheit gilt nach wie vor Voltaires Wort: „Gewohnheit, Sitte und Brauch sind stärker als die Wahrheit."


    Es scheint, die Aufklärung ist bei diesem Thema, anders als in Frankreich und den Benelux-Ländern, an uns vorbei gegangen.

    In Kleinigkeiten wundern wir uns nicht über die Geschmacksunterschiede. Aber sobald es sich um die Wollust handelt, geht der Lärm los. - Marquis de Sade in Justine oder die Leiden der Tugend

  • Eine Diskussion, in der die eine Seite der anderen jeweils Unsachlichkeit vorwirft, ist von vorn herein zum Scheitern verurteilt.


    Faktisch zeigt das Beispiel zahlreicher Staaten und Gesellschaften, auch solcher, die von Haus aus eher zu konservativem Wertedenken neigen, dass die dem besagten Gesetz zu Grunde liegenden gesellschaftlichen, juristischen und sonstigen Überlegungen keineswegs als umfassend allgemeingültig zu betrachten sind.


    Scheinbar rein vernunftbestimmte Begründungen gab es auch lange Zeit für die Aufrechterhaltung des § 175 und ähnlicher Regelungen, die irgendwann ganz plötzlich und ohne jeden Schaden für die Gesellschaft oder auch nur eine irgendwo erkennbare, größere Zahl von Einzelschicksalen verschwunden sind.


    Dass ich zuweilen zum Mittel der polemischen Zuspitzung greife, ist kein Geheimnis - ebensowenig allerdings wie die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen nationalen und supranationalen Institutionen in der EU zuweilen ein äußerst heikles ist und somit sehr wohl per se ein Politikum in der wortwörtlichen Bedeutung, also mit Blick auf die Gemeinschaft.


    Der zitierte Satz von mir bezog sich auf eine ganz konkrete, vorhergehende Äußerung und ist somit hier ohne Belang. "Anarchisch" lasse ich mir übrigens gerne gefallen, der Rest ...


    ... weißt du, mausbacher, wir sind hier alle keine Juristen, schon gar keine Staatsrechtler oder Verfassungsspezialisten, sondern ganz normale Menschen, die zu diesem Thema Ansichten austauschen. Da ist keiner mehr wert oder weiser als der andere. Ich würde dich freundlichst bitten, dies nicht aus den Augen zu verlieren. :]


    Nico S.

  • Zitat

    Original Erpan
    Na dann bleibe ich sachlich und sage: Wenn der Gesetzgeber beim Inzestverbot tatsächlich „spezifische, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten im Blick“ hätte, dann hätte er alle Arten der sexuellen Betätigung unter Verwandten verboten und nicht nur den vaginalen Geschlechtsverkehr, der allein dazu dienen kann, Kinder zu zeugen. Daraus folgt: Der Gesetzgeber hatte allein die Blutschande im Blick, zumal für den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung (auch in der Familie!) andere Paragraphen zuständig sind.


    Ich stimme dir völlig zu, Erpan, die ursprüngliche Gesetzgebung hatte einzig und allein die "Blutschande" im Visier. Das hatte ich nie bestritten. Insbesondere die Erbfolgenerklärung halte ich für weit hergeholt und zwingend abänderungswürdig - durch den Gesetzgeber, damit die Gerichte auch anders entscheiden KÖNNEN.


    Aber, wie wir aber alle wissen, eine Entscheidung des BVerfG nebst Begründungen hat gesetzgebende Funktion. Der § 173 StGB wurde durch die Deutung dieses Gerichts damit quasi erweitert. Es geht seit 2008 damit nicht mehr einzig und allein um die Blutschande, es geht auch und für mich insbesondere um die Abhängigkeiten innerhalb einer Familie.


    Abhängigkeiten: Wir könnten natürlich auch dem 55-jährigen Lehrer rein gesetzlich erlauben, mit seiner 14- oder 16-jährigen Schülerin sexuell verkehren, ja mit ihr den Beischlaf vollziehen zu dürfen.


    Ich denke, die Aufklärung Inzest betreffend in Deutschland ist ganz gut fortgeschritten, es existieren lediglich unterschiedliche Ansichten. Auch das ist gut so und beweist die Pluralität der Meinungsfreiheit in unserem Land.


    Du führst Frankreich an, ok. Vergiss bitte nicht, dort dürfen Heranwachsende von ihren Eltern immer noch - und zwar mit Hilfsmitteln - gezüchtigt werden. Ist doch schön, wenn der französische Vater erst den Stock rausholen darf, um hinterher mit seiner Tochter auch noch gesetzlich abgesegnet schlafen zu dürfen. (Ironie)

  • Zitat

    Oribinal Nico S.
    ... weißt du, mausbacher, wir sind hier alle keine Juristen, schon gar keine Staatsrechtler oder Verfassungsspezialisten, sondern ganz normale Menschen, die zu diesem Thema Ansichten austauschen. Da ist keiner mehr wert oder weiser als der andere. Ich würde dich freundlichst bitten, dies nicht aus den Augen zu verlieren. Freude


    Hier ist keiner mehr wert als der andere, das steht außer Frage; der eine wird jedoch ein wenig weiser sein als der andere - hier, wie auch außerhalb unseres Forums. Und ja, wir KÖNNTEN alle keine Juristen sein - einer von uns hat sich ja bekanntlich bereits gegenteilig geoutet - aber darum geht es eigentlich nicht.


    Gerichte können nur nach der gültigen Gesetzeslage urteilen. Das sollte jeder wissen und berücksichtigen. Trotzdem einem Gericht dann vorzuwerfen, es hätte schändlich oder gar politisch entschieden, hat nichts mehr mit Sachlichkeit zu tun, eher mit Polemik, und ich glaube bei dir speziell eigentlich NICHT mit Unwissenheit. Insoweit ist der Aufruf zur Sachlichkeit keines Falls schädlich für eine Diskussion, eher Gegenteiles kann und sollte er bezwecken.


    Auf die Problematik des durch das BVerfG gestärkten und der folgerichtig damit erweiterten Rechtsbedeutung des Paragraphen - insbesondere die familiären Abhängigkeiten betreffend - habe ich eingangs des Threads bereits hingewiesen. Und dies alles sehr freundlich, sachlich und niemals aus den Augen verlierend, dass wir hier alle unseren eigenen Meinungen haben und eine, wie ich meine, doch recht angenehme Gemeinschaft bilden.


    Ich finde, man sollte den Inzestparagraphen nicht unbedingt mit dem ehemaligen und zu Recht aufgehobenen § 175 StGB (Verbot homosexueller Handlungen) vergleichen. Wollen wir einen Vergleich wirklich ziehen, nehmen wir doch einfach den § 218 StGB. Hier fand eine Novellierung statt, die es heute jeder Frau ermöglicht, wenn auch mit einigen kleinen aber nicht unüberwindbaren Hindernissen, die eigene Schwangerschaft legal und medizinisch korrekt vorzeitig zu beenden. Durch die Einbeziehung des BVerfG zum Thema Inzest bzw. seines Urteils nebst -begründung ist es dem DEUTSCHEN Gesetzgeber nun nicht mehr so einfach möglich, den Paragraphen zu streichen, denn es stünde eine erfolgversprechende Verfassungsklage im Raum.


    Insoweit kann es hier m. E. nur noch um eine Novellierung, nicht aber um eine Abschaffung des § 173 StGB gehen. Letztere wäre nur gesamteuropäisch bzw. durch den EuGH durchsetzbar.


    Eines bitte ich bei aller Emotionalität dieses Themas zu berücksichtigen, noch nie haben sich das BVerfG oder der EuGH/EGMR politischem Druck unterworfen.

    Die begehrenswerteste aller Frauen ist die, mit der ich weinen kann.



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  • Zitat

    Original von NicoS


    ... weißt du, mausbacher, wir sind hier alle keine Juristen, schon gar keine Staatsrechtler oder Verfassungsspezialisten, sondern ganz normale Menschen, die zu diesem Thema Ansichten austauschen. Da ist keiner mehr wert oder weiser als der andere. Ich würde dich freundlichst bitten, dies nicht aus den Augen zu verlieren. :]


    Das ist ja klar. Darum gibt es ja hier eine juristische, eine staatsrechtliche, eine europarechtliche, einstrafrechtliche Ebene (de lege lata) und eine rechtspolitische Ebene (de lege ferenda).


    Hans Kelsen, der Vater des Wiener Rechtspositivismus und Autor der Reinen Rechtslehre, hat schon gelehrt, daß aus einem Sein kein Sollen geschlossen werden kann und umgekehrt!


    Und manche hier sind eben doch Staatsrechtler (ich bin zB ein Schüler eines Schülers des engsten Mitarbeiters von Kelsen) ;) und können damit nicht hinter dem Berg halten...


    Deswegen bin ich natürlich ganz und gar nicht mehr wert oder weiser als andere hier, nur eben ein wenig rechtskundig. :rolleyes:


    Vorschlag: "wir sind hier nicht alle Juristen, schon gar keine Staatsrechtler oder Verfassungsspezialisten" :]


    baer

    Lector, intende,
    laetaberis!
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  • @ mausbacher
    Wenn ich von "politisch" rede, im Speziellen von politischen Erwägungen bei Entscheidungen der besagten höchsten Gerichte, so spreche ich nicht von Parteipolitik oder einem aktiven Druck seitens der Regierungen, sondern davon, dass die Gerichte bei ihren Entscheidungen sehr wohl nicht nur rein rechtliche, sondern auch eben "die Gemeinschaft betreffende" (und nichts anderes bedeutet das Wort "politisch") Erwägungen einbringen - wenn sich derlei auf der Ebene des Verfassungsrechts überhaupt trennen lässt.


    Ich bin auch bereit, den EGMR zunächst mal außen vor zu lassen, doch weder steht unser Gesetzgeber außerhalb meiner Kritik noch das BVG. Um klar werden zu lassen, worauf ich meine Meinung stütze, verweise ich auf diese Quellen:




    Den § 175 hatte ich auch nur als ein Beispiel von vielen angeführt, und keineswegs als einzigen vergleichbaren Fall bezeichnen wollen. Wichtig daran sind mir auch nicht die Folgen der Änderung oder Abschaffung im positiven Recht, sondern die allgemeingesellschaftlichen Folgen der Revision einer vermeintlich tragenden Säule unserer sittlichen Grundordnung.


    Es fällt in vielen Diskussionen (und ich klammere jetzt Anwesende hier im SB explizit aus) um eine Streichung des § 173 jetzt auf, dass seine Befürworter außer dem Erhalt der strafrechtlichen Verfolgbarkeit keinerlei sonstige Perspektive anzubieten haben. Der Paragraph soll bleiben, und damit basta. Aus dieser Ecke wird auch auffallend oft das Argument gebracht, "weshalb überhaupt diese Diskussion?" etc. In dieser Abwehr wird eine Grundangst erkennbar, die lange Zeit auch einen Fortbestand von Regelungen wie dem § 175 geprägt hat: "Wenn der Paragraph fällt, bricht unsere ganze sittliche Ordnung zusammen!"


    Diese Angst ist vielleicht der wahre Kern des Konservativen (das ich ansonsten keineswegs grundsätzlich ablehne, wo es positiv in Erscheinung tritt). Ob man nun die Einführung des Frauenwahlrechts, die Frage des Umgangs mit Einwanderern oder Myriaden anderer Themen betrachtet - wie eben auch die Bewertung der Homosexualität (interessanterweise ja vor allem der männlichen; die weibliche wurde gesellschaftshistorisch kaum je als Bedrohung wahrgenommen): Es ist immer wieder der Irrtum, dass das Beharren auf Althergebrachtem, das Festhalten an tatsächlichen oder vermeintlichen Normen, oft romantisch als Kennzeichen einer "guten alten Zeit" verklärt, eine Gesellschaft stabilisieren.


    Dabei ist es genau umgekehrt: Die Gesellschaft ist schlussendlich die stabilste, die sich am wandelbarsten zeigt. Ein interessantes Beispiel aus einer völlig anderen Sphäre ist die Volksrepublik China: Während die Sowjetunion recht sang- und klanglos von der Landkarte verschwunden ist und die letzten altehrwürdig-stalinistischen Systeme am Existenzminimum herumkrebsen, hat China mit seiner geradezu rauschhaften Adaption kapitalistischer Ökonomiemethoden eine fast märchenhafte Entwicklung jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht hingelegt.


    Ein weiteres Element der oben angeführten konservativen Angst ist, dass ein Abweichen von den "bewährten" Normen quasi zwangsläufig das Kind mit dem Bade ausschüttet. Auch diese Angst ist unnötig, und da nehme ich gerne das Beispiel des § 218 an: Nicht eine extensive Flut von Abtreibungen war die Folge, sondern das Einsetzen eines gesamtgesellschaftlichen Lernprozesses hin zu einem verantwortlichen und sachgerechten Umgang mit dem Thema. Interessanterweise fiel auch z.B. das Entstehen einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz der Homosexualität bis hin zur Wahl eines offen schwulen Vizekanzlers zusammen nicht etwa mit Orgien der Knabenverführung, sondern mit der Aufdeckung und beginnenden Aufarbeitung von Jahrzehnten des Missbrauchs von Knaben (und Mädchen) in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen.


    Um auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen: Ich denke, dass eine Streichung des § 173 und möglicherweise eine Revision weiterer, als überholt ansehbarer Sitten-Reglungen (wie z.B. des § 184 c, der uns hier im SB so viel Mühe macht) keineswegs zu einem Zusammenbruch der sittlichen Ordnung führen würde, sondern vielmehr ebenfalls zu einem Erlernen und Anwachsen (eigen-) verantwortlicher Verhaltensweisen.


    Nico S.

  • Zitat

    Original von mausbacher
    Aber, wie wir aber alle wissen, eine Entscheidung des BVerfG nebst Begründungen hat gesetzgebende Funktion. Der § 173 StGB wurde durch die Deutung dieses Gerichts damit quasi erweitert. Es geht seit 2008 damit nicht mehr einzig und allein um die Blutschande, es geht auch und für mich insbesondere um die Abhängigkeiten innerhalb einer Familie.


    Wie schon gesagt, greifen für die Abhängigkeiten (auch innerhalb der Familie!) andere Paragraphen:

    § 174 Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen
    § 176 Sexueller Mißbrauch von Kindern
    § 177 Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung
    § 179 Sexueller Mißbrauch widerstandsunfähiger Personen
    § 182 Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen


    Dass das BVerfG mit seinem damaligen Urteil den § 173 StGB „quasi erweitert“ hat, ist nicht richtig, denn das BVerfG hat keine gesetzgebende Funktion – es kann nur die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes feststellen oder verneinen.

    In Kleinigkeiten wundern wir uns nicht über die Geschmacksunterschiede. Aber sobald es sich um die Wollust handelt, geht der Lärm los. - Marquis de Sade in Justine oder die Leiden der Tugend

  • Zitat

    Original Erpan
    Dass das BVerfG mit seinem damaligen Urteil den § 173 StGB „quasi erweitert“ hat, ist nicht richtig, denn das BVerfG hat keine gesetzgebende Funktion – es kann nur die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes feststellen oder verneinen.


    Deine Aussage ist nicht ganz richtig.


    Gem. § 31.2 BVerfGG haben die Entscheidungen des BVerfG Gesetzeskraft.


    § 31
    (2) In den Fällen des § 13 Nr. 6, 6a, 11, 12 und 14 hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft. Das gilt auch in den Fällen des § 13 Nr. 8a, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt. Soweit ein Gesetz als mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt wird, ist die Entscheidungsformel durch das Bundesministerium der Justiz im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Entsprechendes gilt für die Entscheidungsformel in den Fällen des § 13 Nr. 12 und 14.


    § 13 BVerfGG
    Das Bundesverfassungsgericht entscheidet
    Nr. 11
    über die Vereinbarkeit eines Bundesgesetzes oder eines Landesgesetzes mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit eines Landesgesetzes oder sonstigen Landesrechts mit einem Bundesgesetz auf Antrag eines Gerichts (Artikel 100 Abs. 1 des Grundgesetzes),


    Grundgesetz
    Art 6
    (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
    -----------


    Natürlich erlässt das BverfG keine eigenen Gesetze. In der Urteilsbegrundung heißt es aber u. a.:


    "Als Strafgrund stehe der grundgesetzlich geforderte Schutz von Ehe und Familie an erster Stelle. Inzestverbindungen führten zu einer Überschneidung von Verwandtschaftsverhältnissen und sozialen Rollenverteilungen und damit zu einer Beeinträchtigung der in einer Familie strukturgebenden Zuordnungen. Zudem diene das Inzestverbot dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. § 173 habe spezifische, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten im Blick."


    Damit legte sich das Gericht eindeutig fest und zielte ab auf den grundgesetzlichen geforderten Schutz der Familie etc. Es dürfte insoweit schwer sein, die völlige Streichung des Paragraphen ohne entsprechende Grundgesetzänderung - wohl unwahrscheinlich - schlussendlich durchzusetzen.


    Die vom BVerfG gemeinten Abhängigkeiten haben nichts mit den von dir genannten Missbrauchsparagraphen zu tun, denn hier ging und geht es um einvernehmlichen Beischlaf mit verwandtschaftlichen Personen über 18 Jahren.

    Die begehrenswerteste aller Frauen ist die, mit der ich weinen kann.



    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von mausbacher ()

  • Aber, nicht nur "Inzestverbindungen führten zu einer Überschneidung von Verwandtschaftsverhältnissen und sozialen Rollenverteilungen und damit zu einer Beeinträchtigung der in einer Familie strukturgebenden Zuordnungen...." auch jedes andere interfamilliäre Problem kann zu einer "Überschneidung von Verwandtschaftsverhältnissen und sozialen Rollenverteilungen und damit zu einer Beeinträchtigung der in einer Familie strukturgebenden Zuordnungen.." führen und müsste daher auch indiziert werden. Nicht zu reden von den sexuellen Begegnungen von Behinderten, - deren Früchte auch wieder behindert sein könnten -, welche aber doch keineswegs verboten sind.

  • Nicos letztem Beitrag habe ich weder etwas entgegenzusetzen noch hinzuzufügen. :)


    Nichtsdestotrotz schließe ich mich der Ansicht des BVerfG hinsichtlich der familiären Abhängigkeiten auch aus persönlichen Gründen nach wie vor größtenteils an, befürworte allerdings ausdrücklich - wie eingangs bereits beschrieben - eine adäquate Novellierung des Gesetzes.

  • "Euch macht ihr's leicht, mir macht ihr's schwer,..."


    Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, 3.Akt, 5.Szene


    Ich kann jetzt eine rechtsvergleichende Analyse bringen, in welchen Rechtsordnungen Verfassungsgerichte (oder andere Höchstgerichte) auch meritorisch entscheiden und damit rechtssetzend agieren und wo ausschließlich kassatorische Entscheidungen vorgesehen sind.


    Ich kann Montesquieu bemühen und über die Gewaltenteilung dozieren und "Richterrecht" schelten.


    Aber:


    Zitat

    Original von NicoS


    wir sind hier alle keine Juristen, schon gar keine Staatsrechtler oder Verfassungsspezialisten, sondern ganz normale Menschen, die zu diesem Thema Ansichten austauschen.


    Daher nochmals:


    Wer mit der positiven Rechtslage nicht einverstanden ist, muß den Weg gehen, den der Gesetzgebungsprozeß der jeweiligen Rechtsordnung vorgibt. In den westlichen Demokratien ist das in der Regel ein Parlamentsbeschluß.


    Die verfassungsrechtlichen Schranken sind (nach der Stufenbaulehre) zu beachten, können aber meist durch qualifizierte Mehrheiten oder (im Fall internationaler Verträge wie der MRK) durch zwischenstaatliche Verträge oder gar nur durch Austritt verändert werden.


    Kurz: Ein Urteil eines Höchstgerichts schafft i.A. keine neue Rechtslage. Die Richter legen das Recht aus.


    Mit Goethe schließe ich:


    "Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr's nicht aus, so legt was unter"


    Zahme Xenien II


    baer

    Lector, intende,
    laetaberis!
    (Lieber Leser, paß auf, Du wirst Deinen Spaß haben! – Apuleus)

  • sorry, doppelpost

    In Kleinigkeiten wundern wir uns nicht über die Geschmacksunterschiede. Aber sobald es sich um die Wollust handelt, geht der Lärm los. - Marquis de Sade in Justine oder die Leiden der Tugend

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