Ich bin dankbar, mich durch die o.a. Kontroverse wieder ein wenig mit Zola beschäftigt zu haben.
14 war zur Entstehungszeit von Die "Rougon-Macquart" (Romanzyklus mit 20 Werken, der u.a. "Der Totschläger" (L’Assommoir 1877) und "Nana" (1880) umfaßt) das "erwerbsfähige Alter" in Frankreich.
„Durchtrieben ist dieses Kind!“ fuhr er fort. „Stellen Sie sich vor, sie hat mir mit kolossaler Dreistigkeit einen Wink gegeben, ich sollte ihr nachgehen. ... Und sie hat sich in einer Hautür wieder mit mir getroffen. Eine richtige Schlange! Nett, spielt das Zierpüppchen und leckt einen ab wie ein Hündchen! Ja, sie hat mich geküsst und hat wissen wollen, wie es allen geht ... Kurzum, es hat mich sehr gefreut, sie zu treffen.“
Émile Zola: Der Totschläger
Die Eltern sind nicht nur darüber schockiert, dass sich ihre Tochter Nana als Prostituierte verdient und man im Viertel über sie reden könnte, vielmehr erregt die Vorstellung, dass es ihr finanziell besser gehen könnte als den beiden, eifersüchtigen Unmut. Sie beschließen Nana im nächtlichen Paris ausfindig zu machen und suchen die Tochter unter anderem in den Tanzlokalen des Viertels, wo sie schließlich auch gefunden wird. Anstatt auf einer professionellen Theaterbühne, die vornehme Männer anlockt, tanzt Nana im Totschläger noch halbnackt in einer dreckigen Spelunke inmitten der sich um sie drängelnden Menge. Die Eltern erkennen die tanzende, Hüften und Busen lasziv wiegende Tochter, die aufreizend Beine und Röcke hebt und dabei alles zeigt. Ihr Kleid sieht heruntergekommen aus, die Volants am Rock zerrissen. Kein Schal bedeckt ihre Schultern, in bloßer Korsage bietet sie sich den Säufern im Publikum an. Der Vater unterbricht die Vorstellung unsanft – Nana muss zurück zu ihren Eltern.
Von der unbedeutenden, durchschnittlichen Straßendirne aus dem Totschläger hat sich Nana am Beginn des Romans zu einer bedeutenderen Kurtisane entwickelt, die vom Direktor des Théâtre des Variétés die Hauptrolle in der Operette „Die blonde Venus“ angeboten bekommen hat. Für Nana bedeutet dies einen ungeheuren sozialen Aufstieg, zumal sie im Theater die Möglichkeit hat reiche und bedeutende Männer der vornehmen Gesellschaft kennenzulernen, die in der Lage sind diesen Aufstieg sichern und ausbauen können. Der Direktor Bordenave, der in dem zweifelhaften Ruf eines Zuhälters steht, der auf der Bühne Frauen zu reinen Schauzwecken ausstellt, akzeptiert die hemmungslose Kupplerei hinter der Bühne, im Zuschauerraum und dem Pausenfoyer. Immer wieder macht er unbedarfte Gesprächspartner auf die Gepflogenheiten seines Hauses aufmerksam, indem er das Operettentheater völlig ungeniert als Puff bezeichnet.
Der heruntergekommenen und abgewirtschafteten Dirne und ehemaligen Operettendiva Nana gelingt es wieder mit dem Grafen Muffat zusammenzukommen, obwohl sie ihn in seinerzeit barsch gedemütigt hatte. Der Graf jedoch ist Nana jedoch dermaßen verfallen, dass ihm nur wichtig ist, sie für sich alleine zu besitzen, was Nana ihm zunächst auch verspricht. Ein Haus, Dienerschaft, Stallungen und standesgemäße Ausstattung erwartet sie sich dafür als Gegenleistung. Von nun an schwelgt sie in beispiellosem Luxus, den ihr der Graf finanzieren muss. Nach und nach wird es Nana auch zu mühsam die zahlreichen anderen Liebhaber vor dem Grafen geheim zu halten und Muffat ist so abhängig von ihr, dass ihm nichts anderes übrig bleibt als das Treiben seiner Mätresse zu tolerieren. Auch Satin ist wieder aufgetaucht. Sie wohnt bei Nana und die beiden setzen ihre Beziehung fort, wie sie durch die Polizei beendet wurde. Sie leben ihre Liebe ungeniert aus; Muffat und die anderen Liebhaber sind für die beiden Frauen nicht mehr als notwendiges Übel, das ihnen den Lebensunterhalt finanziert.
„Vielleicht legt man ein wenig zuviel in die symbolische Deutung, wenn man sagt, der verweste Körper Nanas ist das im Todeskampf liegende Frankreich des Zweiten Kaiserreichs. Aber offensichtlich habe ich irgendeine Bezugsetzung gewollt ...“
– Émile Zola: Nana
Das ist große Literatur!
baer