@ mausbacher
Wenn ich von "politisch" rede, im Speziellen von politischen Erwägungen bei Entscheidungen der besagten höchsten Gerichte, so spreche ich nicht von Parteipolitik oder einem aktiven Druck seitens der Regierungen, sondern davon, dass die Gerichte bei ihren Entscheidungen sehr wohl nicht nur rein rechtliche, sondern auch eben "die Gemeinschaft betreffende" (und nichts anderes bedeutet das Wort "politisch") Erwägungen einbringen - wenn sich derlei auf der Ebene des Verfassungsrechts überhaupt trennen lässt.
Ich bin auch bereit, den EGMR zunächst mal außen vor zu lassen, doch weder steht unser Gesetzgeber außerhalb meiner Kritik noch das BVG. Um klar werden zu lassen, worauf ich meine Meinung stütze, verweise ich auf diese Quellen:
Den § 175 hatte ich auch nur als ein Beispiel von vielen angeführt, und keineswegs als einzigen vergleichbaren Fall bezeichnen wollen. Wichtig daran sind mir auch nicht die Folgen der Änderung oder Abschaffung im positiven Recht, sondern die allgemeingesellschaftlichen Folgen der Revision einer vermeintlich tragenden Säule unserer sittlichen Grundordnung.
Es fällt in vielen Diskussionen (und ich klammere jetzt Anwesende hier im SB explizit aus) um eine Streichung des § 173 jetzt auf, dass seine Befürworter außer dem Erhalt der strafrechtlichen Verfolgbarkeit keinerlei sonstige Perspektive anzubieten haben. Der Paragraph soll bleiben, und damit basta. Aus dieser Ecke wird auch auffallend oft das Argument gebracht, "weshalb überhaupt diese Diskussion?" etc. In dieser Abwehr wird eine Grundangst erkennbar, die lange Zeit auch einen Fortbestand von Regelungen wie dem § 175 geprägt hat: "Wenn der Paragraph fällt, bricht unsere ganze sittliche Ordnung zusammen!"
Diese Angst ist vielleicht der wahre Kern des Konservativen (das ich ansonsten keineswegs grundsätzlich ablehne, wo es positiv in Erscheinung tritt). Ob man nun die Einführung des Frauenwahlrechts, die Frage des Umgangs mit Einwanderern oder Myriaden anderer Themen betrachtet - wie eben auch die Bewertung der Homosexualität (interessanterweise ja vor allem der männlichen; die weibliche wurde gesellschaftshistorisch kaum je als Bedrohung wahrgenommen): Es ist immer wieder der Irrtum, dass das Beharren auf Althergebrachtem, das Festhalten an tatsächlichen oder vermeintlichen Normen, oft romantisch als Kennzeichen einer "guten alten Zeit" verklärt, eine Gesellschaft stabilisieren.
Dabei ist es genau umgekehrt: Die Gesellschaft ist schlussendlich die stabilste, die sich am wandelbarsten zeigt. Ein interessantes Beispiel aus einer völlig anderen Sphäre ist die Volksrepublik China: Während die Sowjetunion recht sang- und klanglos von der Landkarte verschwunden ist und die letzten altehrwürdig-stalinistischen Systeme am Existenzminimum herumkrebsen, hat China mit seiner geradezu rauschhaften Adaption kapitalistischer Ökonomiemethoden eine fast märchenhafte Entwicklung jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht hingelegt.
Ein weiteres Element der oben angeführten konservativen Angst ist, dass ein Abweichen von den "bewährten" Normen quasi zwangsläufig das Kind mit dem Bade ausschüttet. Auch diese Angst ist unnötig, und da nehme ich gerne das Beispiel des § 218 an: Nicht eine extensive Flut von Abtreibungen war die Folge, sondern das Einsetzen eines gesamtgesellschaftlichen Lernprozesses hin zu einem verantwortlichen und sachgerechten Umgang mit dem Thema. Interessanterweise fiel auch z.B. das Entstehen einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz der Homosexualität bis hin zur Wahl eines offen schwulen Vizekanzlers zusammen nicht etwa mit Orgien der Knabenverführung, sondern mit der Aufdeckung und beginnenden Aufarbeitung von Jahrzehnten des Missbrauchs von Knaben (und Mädchen) in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen.
Um auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen: Ich denke, dass eine Streichung des § 173 und möglicherweise eine Revision weiterer, als überholt ansehbarer Sitten-Reglungen (wie z.B. des § 184 c, der uns hier im SB so viel Mühe macht) keineswegs zu einem Zusammenbruch der sittlichen Ordnung führen würde, sondern vielmehr ebenfalls zu einem Erlernen und Anwachsen (eigen-) verantwortlicher Verhaltensweisen.
Nico S.