Ein Funke Hoffnung

  • Ich habe mich nochmal an etwas Neues gewagt, das ich mit euch teilen möchte.


    Das Grau des Himmels spannt sich über mir wie ein schweres Leichentuch, die Wolken dick und unbeweglich, voll kalter Nässe. Das Schwarz der Dunkelheit ist absolut, als hätte die Welt an diesem Punkt aufgehört, Farbe und Licht zu kennen. Hier verschwand jede Form, jeder Gedanke in einer ewigen Nacht, die keinen Morgen versprach.

    Der Weg zur Klippe zieht sich hin wie ein träge fließender Fluss, doch ich fühle kaum, wie ich mich vorwärts bewege. Jeder Schritt hallt gedämpft in der Stille wider, mechanisch, wie das Ticken einer alten Uhr, die ihre letzten Sekunden abzählt. Meine Schritte hallen im Nichts, als würde ich in einem endlosen Kreis laufen. Kein Echo, das je zurückkam. Nur das monotone Schleifen, die stetige Schwere des Wegs. Es ist merkwürdig – diese Ruhe in mir. Keine Zerrissenheit, kein Zittern. Nur diese dumpfe Schwere, die wie ein kalter Klotz in meiner Brust liegt und mich weiter nach vorne zieht.

    Die Luft ist schneidend kalt, scharf wie das Blatt eines Messers, das sich in die Haut schneidet. Sie trägt den Geruch von nassem Laub, von modrigem Holz und feuchtem Stein mit sich, und irgendwo, weit entfernt, höre ich das leise Rauschen des Flusses, der tief unter mir seinen Weg durch die Schlucht sucht. Früher hätte mich dieses Rauschen vielleicht beruhigt, hätte mir das Gefühl gegeben, dass ich irgendwo dazugehöre. Doch jetzt? Es ist nur ein weiteres Geräusch in dieser Welt, dumpf und bedeutungslos wie alles andere. Jeder Schritt auf dem kalten Boden knirschte leise, wie das mahlende Geräusch einer rostigen Maschine, die kurz davor ist, endgültig stehen zu bleiben.

    Ich bleibe stehen und sehe mich um. Die Bäume wirken wie gespenstische Schatten, ihre Äste kahl und knorrig, einige letzte, vom Frost gezeichnete Blätter hängen noch daran, blass und müde, als hätten sie den letzten Kampf aufgegeben. Der Herbst hat diese Welt wie ausgehöhlt, hat sie leer und kalt zurückgelassen – genau so, wie ich mich fühle. Der Boden unter meinen Füßen ist feucht und matschig, und die Kälte zieht durch die Sohlen meiner Schuhe, kriecht bis in die Knochen. Es ist egal, denke ich. Bald wird ohnehin alles vorbei sein.

    Eine Welle von Müdigkeit überrollt mich, aber es ist keine Müdigkeit, die man mit Schlaf loswerden kann. Es ist eine tiefe Erschöpfung, die sich in jeder Zelle festgesetzt hat, in den Muskeln, den Nerven – ein Gewicht, das mich nach unten zieht. Als hätte ich mein ganzes Leben lang etwas mit mir herumgeschleppt, das mich am Ende nun vollständig aufbraucht. Ich habe es zu lange ertragen, und jetzt… bleibt mir nichts, was mich hält.

    Ich bin ein Schatten dessen, was ich war. Ein dünner Schleier, der nach und nach vom Wind fortgetragen wird. Es gibt nichts mehr, das an mir haften bleibt, nichts, das mich mit dieser Welt verbindet. Vielleicht bin ich längst verschwunden, ein Atemzug im Nichts. Die Kälte war nicht nur auf der Haut. Sie hatte längst begonnen, in mir zu wachsen, in die tiefsten Winkel meiner Gedanken zu sickern und jede Erinnerung in starren, eisigen Griff zu halten. Nichts darin lebte noch, nur das frostige Schweigen.

    Meine Gedanken wandern zu den Gesichtern, die mich einmal umgeben haben. Menschen, die ich geliebt habe, die vielleicht auch mich geliebt haben. Eltern, Freunde, flüchtige Begegnungen. Sie tauchen in meinem Kopf auf wie blasse Schatten, verblasst und durchlässig, wie eine alte Fotografie, die zu lange im Licht gelegen hat. Aber je mehr ich versuche, sie festzuhalten, desto weiter entfernen sie sich, wie ein Echo, das sich immer mehr verliert.

    Die Gesichter in meinem Kopf waren nichts als schemenhafte Erinnerungen, unwirkliche Bilder, wie die Spuren eines Traumes, der beim Erwachen verschwindet. Ich streckte meine Gedanken nach ihnen aus, doch sie zerrannen zwischen meinen Fingern, kaum mehr als ein fader Abglanz dessen, was einst Wärme war.

    Alles, was einst zwischen uns war, ist jetzt zerbrochen, nur noch ein Hauch vergangener Wärme, der längst verschwunden ist. Ihre Stimmen sind nur Echos, Geister in meinem Kopf, Schatten ihrer selbst. Sie verhallen immer wieder, flüstern aus einem Leben, das mir längst fremd geworden ist. Wie die Schritte eines Fremden, die irgendwo in der Ferne verhallen.

    Der Wind weht stärker und schneidet mir ins Gesicht, lässt meine Augen tränen. Für einen Moment greife ich meine Jackentaschen, presse die Hände fest hinein, als könnte das den Schmerz aufhalten. Doch es hilft nichts. Die Kälte dringt durch jede Schicht, sickert durch Haut und Knochen, bis sie mich vollständig ergriffen hat. Und mit der Kälte kommt die Stille, diese endlose, dunkle Stille, die mich von innen ausfüllt. Alles in mir schreit danach, diese Kälte nie wieder spüren zu müssen.

    Ich richte meinen Blick wieder auf den Boden und laufe weiter. Alles um mich herum fühlt sich erstarrt an, gefangen in einem Moment, der nie enden will. Es ist, als würde die Welt meinen Atem anhalten. Die Klippe ist nur noch ein paar Schritte entfernt, und etwas in mir beginnt zu zittern. Ein Zucken tief in der Brust, vielleicht eine letzte Spur von Angst. Doch ich unterdrücke es. "Was bleibt mir sonst?", flüstere ich in die Dunkelheit und bekomme keine Antwort. Kein Funke Hoffnung, keine versteckte Lösung, kein rettender Gedanke. Nichts.

    Und dann bin ich da. Ich sehe das Ende des Pfades vor mir, den schmalen, steinigen Rand, der in eine gähnende Leere übergeht. Die Klippe erstreckt sich wie das Ende der Welt. Vor mir nur die weite, tiefschwarze Dunkelheit. Der Fluss rauscht irgendwo da unten, sein Klang ist tief und dumpf, wie der Herzschlag eines Giganten, der schläfrig in der Ferne pocht. Der Wind zerrt an mir, lässt mein Gleichgewicht schwanken, und ich schließe die Augen. Ich stelle mir vor, wie es wäre zu fallen, nur für einen Moment.

    Die Klippe ist ein schwarzer Schlund, hungrig und still. Ihr Ruf war sanft, aber unnachgiebig – ein Flüstern, das tief in meinen Kopf sickerte und jede andere Stimme erstickte. Das Dunkel schien mich mit einer seltsamen Vertrautheit zu rufen, als sei es der einzige Ort, an den ich je gehört hatte. Meine Hände zittern, als ich sie aus den Taschen nehme und die Finger über die kalte, feuchte Erde gleiten lasse. Ein Gefühl, das fast wie Leichtigkeit erscheint, breitet sich in mir aus, eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen könnte, einfach zu verschwinden, sich von allem zu lösen und eins mit der Dunkelheit zu werden. Vielleicht ist es das, was alle Freiheit nennen. Das Ende aller Fragen, das Ende aller Erwartungen. Ein friedliches Nichts.

    Ich weiß nicht einmal mehr, wann es begonnen hat, dieses Gefühl der Leere. Vielleicht war es immer schon da, ein unsichtbarer Schatten, der erst mit der Zeit größer geworden ist, bis er schließlich alles Licht in mir verschlungen hat. Jetzt gibt es nichts mehr, das mich hält. Kein Grund, kein Ziel. Nur ein stumpfes Schweigen in mir, selbst die Fragen, die immer in meinem Kopf tobten, sind längst verstummt, wie ein Sturm, der nachlässt, nachdem er alles verwüstet hat.

    Jetzt stehe ich hier, am Rande der Klippe, und die Erde unter mir fühlt sich weich und brüchig an, als würde sie nur darauf warten, dass ich loslasse. Der Wind ist eisig und beißt in mein Gesicht, als würde er mich auslachen. Ich blicke hinunter und sehe nur Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die mich willkommen heißt, die mich ruft. Es wäre so einfach, denke ich, einfach loszulassen und zu fallen. Ein Stein, der zurück zur Erde findet, zurück in den Schoß, wo ihn niemand mehr stört.

    Der Augenblick dehnte sich, eine Blase aus Stille, die mich umschloss und mir den Atem nahm. Ein letzter Herzschlag, immer wieder wiederholt, als hätte sich die Zeit ein letztes Mal verirrt und beschlossen, in dieser Dunkelheit zu verharren. Ich stelle mir vor, wie alles erlischt – wie ein Licht, das langsam ausbrennt. Keine Geräusche, keine Kälte, keine Fragen. Ein Moment, der sich auflöst in nichts, eine Dunkelheit, die sanft und formlos ist. Eine Umarmung, die nichts fordert, nichts verspricht – außer dieser stillen Ruhe, die sich mir jetzt in die Knochen frisst.

    Ich spüre den Sog der Tiefe, und etwas in mir entspannt sich, als ob ich nur darauf gewartet hätte, diese Dunkelheit zu akzeptieren. Alles um mich herum wird stiller, klarer, als würde die Welt endlich den Atem anhalten, um diesen Moment nicht zu stören. Vielleicht ist das der Moment, in dem man wirklich frei ist. Keine Fragen, keine Zweifel, keine Schmerzen. Ich stehe da, fühle die Schwere unter mir, die Kälte über mir und mein Blick verliert sich in der endlosen, stummen Tiefe. Es ist, als würde mich diese Dunkelheit sanft locken, wie eine Mutter ihr Kind zur Ruhe ruft. Vielleicht ist das, was die Menschen Freiheit nennen, nichts weiter als die tiefe, grenzenlose Stille.

    Jetzt stehe ich hier, am Rande der Klippe. Und dann, mitten in der Unendlichkeit der Leere, höre ich es: Schritte, ein leises, vorsichtiges Geräusch. Leise, kaum mehr als ein Flüstern in der Dunkelheit hinter mir, als würde sich jemand vorsichtig nähern. Ein Unbekannter, der sich vielleicht verlaufen hat, der zufällig diesen einsamen Weg eingeschlagen hat, ohne zu wissen, wohin er führt. Die Schritte kommen näher, und für einen Augenblick bin ich versucht, mich nicht umzudrehen. Aber dann, mitten im Rauschen des Windes, höre ich eine leise, weiche Stimme: "Hey... bist du okay?"

    Ich starre weiter in die Tiefe, hoffe, dass sie verschwindet. Doch die Stimme ist ruhig, sanft. Keine Verärgerung, keine Neugier. Nur ein Hauch von etwas, das wie echtes Interesse klingt. Ein Fremder, der sich sorgt, ausgerechnet hier, in dieser kargen, kalten Dunkelheit.