"G'schnackselt und gegessen wird immer"
Sigrid Schamall, 10. Mai 2010, 17:00
Das "Haus der Höhepunkte" am Tiefen Graben in der Wiener Innenstadt. Im Bild: Tausend und eine Nacht".
Das "Hotel Orient" gehört zu den originellsten Stundenhotels weltweit, Diskretion hat oberste Priorität - kein Mucks dringt nach außen
Das Ambiente könnte bezaubernder nicht sein. Die winzige Bar ist ausgestattet mit einigen wenigen Barhockern, Bänken, Sesseln. Allzu laut reden wird man nicht, sofern der Nachbar Intimitäten nicht mithören soll. An den Wänden Spiegel, das Gemälde einer barocken Dame im Eva-Kostüm und ein Bildnis der Katharina von Schratt. Kaiser Franz Josef soll hier regelmäßig seine Geliebte getroffen und majestätisch beglückt haben. Ein neunarmiger Luster hüllt den Raum in dezentes Licht. Dominierende Farbe: Rot. Und doch hat die Bar im "Hotel Orient" nichts Verruchtes. Das Etablissement ist Wiens bekanntestes Stundenhotel, vielleicht sogar weltweit - sicher aber ist es das originellste.
Wer in diese Welt eintaucht, ob als Sekretärin des Chefs, als Geliebte des Managers oder als Ehefrau an der Seite des eigenen Mannes, streift mit einem Schlag den Alltag ab. Mit jeder Zimmertür öffnet sich eine andere Welt. Von imperial bis barock, von Jugendstil bis Exotik - jedes Zimmer hat seine eigene Landschaft, keines ähnelt dem anderen. Entsprechend auch die Namen wie "Tausend und eine Nacht", "Amethyst", "Afrika", "Engerl und Bengerl", "Orient Express" oder "Kaisersuite". Die Bezeichnungen sind Programm, denn die Liebesstätten sind passend zum Sujet liebevoll bestückt mit Original-Möbel der jeweiligen Epoche, herbeigeschafft aus aller Herren Länder. Plüsch in jeder Variation, schwere Spiegel an oder über den Betten, wuchtige Vorhänge, Badezimmer mit Kuppeldach oder Sternenhimmel, in den Boden versenkte, marmorierte Wannen oder Duschen, die nichts verbergen. Manchmal kitschig, nie überladen - für jeden Geschmack etwas.
Rückblick: Heinz Werner Schimanko übernimmt das Haus, ein kleines Hotel in der Wiener Innenstadt Ende der 1970er Jahre - ziemlich genau ein Jahrhundert nach der ersten urkundlichen Erwähnung. Der Lebemann mit Glatze, Monsterschnauz im Gesicht und Besitzer unterschiedlichster Immobilien vermietet zunächst nur das unterste der vier Stockwerke an Kunden einschlägiger Damen. Die Gäste kommen und gehen, die einen nach oben, die anderen bleiben im Erdgeschoß. Schimanko sen. ist eine schillernde Persönlichkeit, kennt alle und jeden, tout le monde eben. Unweigerlich prallen zwei Welten aufeinander. Die japanische Familie mit umgehängten Fotoapparaten beispielsweise staunte einst nicht schlecht, auf dem Weg ins Obergeschoß einem angeheiterten Herrn mit Bademantel und Champagnerflasche ausgestattet am Flur zu begegnen, so Heinz-Rüdiger Schimanko, Sohn "aus dem ersten Wurf" der verstorbenen Legende Schimanko und heutiger Besitzer des "Orient". Ende der 1980er Jahre kehrt Vater Schimanko dem Rotlichtmilieu den Rücken und vermietet alle Zimmer ausschließlich an Seitensprüngler oder Liebespaare.
Jahrhundertelange Geschichte
Das Haus seufzte bereits vor 300 Jahren. Durch den heutigen Tiefen Graben in der Wiener Innenstadt floss ein Seitenarm der Donau. Von den großen Dampfschiffen aus brachten kleine Boote die Waren in die Stadt. Das heutige Hotel war eine beliebte Schenke, Herberge und ein Umschlagplatz für Waren aus - dem Orient.
Seit fünf Jahren führt Schimanko jun. nun schon das Haus. Ein Erbe, das für den damaligen Studenten völlig überraschend kam: "Am 22. November hat er sich verabschiedet, viel zu früh." Herzinfarkt beim Sex mit der Freundin. "Jeder hat gewusst, wie mein Vater lebt, wie er tickt." Und, Zitat Schimanko sen. "Ich beneide mich jeden Tag selbst." Das Hotel ist für Sohn Schimanko demnach nicht irgendein Job, er trägt sein Erbe mit leidenschaftlichem Engagement und dem Vater verpflichtet. Im ersten Jahr arbeitet er 16 bis 18 Stunden an der Rezeption, häufig sieben Tage die Woche.
100 Prozent Diskretion
Bald nach Erbantritt fliegen die alten Matratzen hinaus und werden durch neue ersetzt - "Federkernmatratzen sind nicht mehr up to date, wenn der Untergrund quietscht oder sich eine Feder in den Hintern bohrt" - die Technik wird erneuert, das Dach neu gedeckt, Antiquitäten werden zugekauft. Oft dauert es Jahre, bis ein Stück gefunden oder geliefert wird. Rund ein Dutzend Mitarbeiter - Rezeptionisten und Stubenmädchen - unterstützen ihn heute. "Wir sind wie eine Familie, vertrauen uns gegenseitig zu einhundert Prozent." Wer im „Orient" arbeiten will, wird vergebens auf ein Zeitungsinserat warten. „Unsere Mitarbeiter sind allesamt über ein, zwei Ecken mit mir oder Freunden bekannt."
An Bewerbungen mangle es jedenfalls nicht. "Es melden sich 14-, 15-jährige Lehrbuam und -madln, die hier allen Ernstes als Konditor oder Küchenhilfe arbeiten wollen. Ein Blick auf unsere Homepage würde reichen... bei uns gibt es nicht die Küche im eigentlichen Sinn. Am Menüplan stehen kleine Speisen wie Gänseleberpastete."
Schimanko: "Der Rezeptionist ist das erste Gesicht, das der Gast sieht, die erste Stimme, die er am Telefon hört." Einen Katalog der rund 20 Zimmer gibt es nicht. Auch hier ist es die Person am Empfang, die mit viel Erfahrung und Gespür den Gast einschätzen und eine Empfehlung geben muss. "Eine Reservierung für ein bestimmtes Zimmer gibt es nicht, bezahlt wird unter der Woche auf Basis von drei Stunden. Danach haben die Gäste die Möglichkeit zu verlängern." Der Preis für die Dauer eines "Schäferstündchen" liegt zwischen 63 und 95 Euro. Am Wochenende können ganze Nächte gebucht werden.
Entfleuchende Geräusche durch geöffnete Fenster stört die Anrainer offenbar nicht. Schimanko: "Es hat sich noch niemand über exzessives Gestöhne beschwert." Die Zimmertüren selbst sind dezent gepolstert. Zumindest von hier dringt kein Mucks nach außen. Selbiges gilt auch für die Privatsphäre der Gäste. "Diskretion ist unser oberstes Gebot." Wer hier eincheckt, bleibt anonym. "Bloß keine Namen." Nennen Sie sich Dr. Yes oder meinetwegen Goldständer, empfehle er den Anrufern. Von anderen Pseudonymen wiederum rät er ab: "Der Pool an Hubers und Maiers ist schon zu groß." Und wie verlässt man das Haus unerkannt und ungesehen? Schimanko lacht. "Wenn jemand darauf besteht, werden sich immer zwei 'Stubis' finden, die den Gast mit einem mobilen Vorhang - zwei Leintüchern - hinaus eskortieren." Den geheimen Tunnel oder die Hintertür gibt es nicht. Ebenso wenig wie eine Stammkundschaft. Schimanko schmunzelt: "Wie gesagt, ich kenne meine Gäste nicht."
Dramen. Nicht selten rufen eifersüchtige Ehefrauen an, bieten Geld, um das Schweigen des Rezeptionisten zu brechen. "War, ist mein Mann hier?", so eine der häufigsten Fragen. Keine Chance. Eiserne Diskretion.
Eine kleine, dafür umso stärker leuchtende Taschenlampe gehört zu Schimankos Grundausstattung. Stichprobenartig kontrolliert er die Zimmer. Kein Tapser auf den Spiegeln, nicht das kleinste Haar in der Badewanne will er sehen. Denn: "Sauberkeit ist das zweite Gebot. Am liebsten sind mir Stubenmädchen mit dem Monk-Syndrom, also mit einem ausgeprägten Reinigungssinn."
Krisensicheres Geschäft
Die Wirtschaftskrise scheint vor der Schwelle des Etablissements halt gemacht zu haben. Erneut zitiert der Sohn Schimanko sen.: "G'schnackslt und gegessen wird immer." Zum Teil überwiege die 'Jetzt-erst-recht-Mentalität.' Wozu sollten sie ihr Geld jetzt unter die Matratze stopfen, meinten einige seiner Gäste. Andere legten nach: "Heute keinen Sekt, bitte Champagner"" Natürlich gebe es auch jene, die sich den Wein aus dem Supermarkt mitbrächten. Die Nachfrage nach Zimmern aber sei ungebrochen.
Die Getränkepreise in dem exklusiven Ambiente sind moderat. 14 Euro für ein Stifterl Sekt, 46 Euro für eine Flasche, den Prosecco gibt's um ca. 30 Euro. 365 Tage im Jahr rund um die Uhr hat das "Orient" geöffnet. Die Zahl der Gäste variiert von Tag zu Tag, ist nicht kalkulierbar. Einzig zu Weihnachten und im Frühling nimmt die Frequenz spürbar zu. Schimanko: "Die Hormone..."
Fragen zu Umsatz und finanziellen Entwicklungen beantwortet der Hotelier diplomatisch: "Ich kann mich nicht beklagen."
Antik, aber nicht antiquiert, verbindet das „Hotel Orient" Diskretion mit Exklusivität, Tradition und Moderne. Nur bei dem einen oder anderen will Schimanko nicht mitziehen: "In meinem Hotel wird man immer rauchen dürfen, das kann mir keine EU verbieten. Kommt das Gesetz zahle ich eben Strafe." Auch den Fahrstuhl aus der Nachkriegszeit lässt er unverändert, er werde das Stück nicht durch unnötige Lichtschranken "verschandeln". Original soll original bleiben in dem geschichtsträchtigen Haus, wo alles alt ist. Mit einer Ausnahme: Heinz-Rüdiger Schimanko ist 29 Jahre jung. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 10.5.2010)
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Hotel Orient