Alle Augenpaare ruhen erwartungsvoll auf Bewares Körper, insbesondere auf ihren Händen natürlich, die sich jedoch nicht in Richtung Knopfleiste aufmachen, sondern nach wie vor verlegen an ihrer Kittelhüfte nesteln. Es herrscht eine bedrohliche Stille im Pausenraum. Wie kann das sein? Innerhalb weniger Minuten verwandelte sich dieser Klinikalltag in einen Albtraum.
„Das, das mache ich nicht. Das könnt ihr vergessen.“ Dabei schüttelt die sonst viel taffere Doktorin ihren Kopf so energisch, dass ihr selbst schwindelig wird. Der Gedanke, mehr oder weniger nackt vor den Patienten und Kollegen zu arbeiten, bereitet ihr großes, nein, sehr großes Unbehagen. Und daraus macht sie keinen Hehl.
Die unnachgiebigen Blicke der anderen sprechen jedoch Bände.
Normalerweise hätte jetzt wohl ihr letztes anständiges Stündlein geschlagen, bevor sie in den sodomgomorristischen Kliniksumpf abgetaucht wäre. Doch wie bestellt fängt die Patientennotruflampe ihr penetrantes Leuchten und Schnarren an. Und allen, aufblickend, ist sofort klar, welches Zimmer ausgerechnet jetzt nach Aufmerksamkeit ruft.
Erleichtert prescht Beware zur Tür vor, um sich erneut anzuschicken ihre Patienten zu versorgen. Doch Igor stellt sich breit und mit finsterer, sonst regloser Miene in ihren Weg. Endlos kann man an diesem Fleischberg hochsehen, schon längst liegt ihr Kopf tief im Nacken. War da nicht eben noch eine Tür?
„Oh nein, Frau Dr. B.Eware, um die Kranken kümmern sich jetzt F.Igo und Iwan.“ Zampano nickt den beiden zu, froh, sie auf diese Weise erneut loszuwerden. „Unser Notfall hier sind ganz allein sie, Beware. Nicht wahr, Rudolph?“
Er stupst seinen Kollegen Rudolph freundschaftlich in die Seite. Dieser lächelt jedoch nur eingefroren und mit halboffenem Mund.
Erst neulich las Beware noch Dr. Rudolph vom Baers sehr umfassende und beeindruckende Abhandlung über frontaltemporallinguistische Zusammenhänge von klassisch sopranistischer Musik und neurosynaptischen Transmissionen der Hominidae. Und jetzt wirkt er so hilflos zugeknöpft. Er kann ja nicht mal sprechen, denkt Beware, und zweifelt etwas an seinem, zumindest in der schriftlichen Ausarbeitung, so souverän wirkenden Talent.
„Und Frau Dr. Geli-Inchen, auch bei ihnen lässt sich da doch sicher noch was machen.“ Zampano rückt ihr dicht auf die Pelle, sein Blick an ihrem Ausschnitt festgesaugt. „Also los, meine Damen. Sie kennen die neuen Regeln. Her mit den Kitteln!“
Erstmalig verliert Dr. Geli-Inchen ihre Fassung. Man sieht ihr an, dass sie mit dieser Wendung nicht rechnete. Geistesgegenwärtig verbarrikadiert sie ihre Brüste hinter dem grünen Schreibklemmblock von Lightz, den sie noch immer in den Händen hält.
Irritiert sieht Zampano sie an. „Was ist, Gel- Inchen, ich dachte sie stehen hinter dem Konzept? Fallen sie uns jetzt in den Rücken?“
Inzwischen steht sie aber eher hinter Bewares Rücken. Die eben noch so resolut wirkende Persönlichkeit scheint plötzlich schwach und zerbrechlich. „Ich, ich weiß, es ist Vorschrift. Aber ich habe nie gesagt, dass ich das gut finde.“ hört man ihr liebliches Stimmchen zaghaft piepsen.
„Damit wird der meissner nie durchkommen. Es hat sich ausge-ohne-kittelt. Wir machen da nicht mit!“ unterstützt Beware die aufkeimende weibliche Meuterei und stemmt zur Untermauerung ihres Statements ihre Hände geschäftig in die Hüfe, so dass sich ihre Kittelknopfleiste semiberstend spannt.
Erneut kommt es zu einer überraschenden Wendung. Die Tür öffnet sich nach zögerlichem Klopfen. Herr Peter Carsten lugt nur mit dem Haupt durch den Spalt. „Ich möchte wirklich nicht stören, aber…“ er nickt, so gut er kann mit halbem Kopf nach hinten. „Ihre Kollegen scheinen Probleme mit dem meissner zu haben.“
Und wirklich. Zunächst hört man nur Rufen und Schritte aus dem Flur. Die Sohlen quietschen auf dem gebohnerwachsten PVC-Bodenbelag in mattem Lichtgrau.
Als Peter Carsten die Tür weiter öffnet, sieht man den gehetzten meissner in Schwester Montez' hübschen neuen halterlosen schwarzen Seidenstrümpfen nebst Dessous, lachend über den Flur huschen. Dicht gefolgt vom sportlich interressierten F.Igo, der nur einen kurzen verschwitzten Seitenblick für die staunende Pausenraumbelegschaft übrig hat. „Halt, bleiben sie stehen.“
Weit abgeschlagen schnauft und brummt Iwan als friedfertiges aber dienstbeflissenes Schlusslicht. Und dabei lässt er sich durch nichts, aber auch gar nichts
beirren. Seine Konzentration gilt allein der schon gezückten und aufgezogenen Haldol-akut-5mg-Spritze, die er drohend wie einen Wurfpfeil abschussbereit hält, um den hyperaktiven
Patienten erneut ins schillernde Scheinparadies zu verfrachten.
„Ja, ist das denn ein Irrenhaus?“ hört man den großen Zampano rufen, bevor er sich rührlich rumfuchtelnd dem rennenden Rudel, samt Rudolph, anschließt.
Etwas befangen lehnt sich Peter Carsten an den Lacktürrahmen und sieht die beiden schönen Doktorinnen an, die nun als einzige bei ihm zurückbleiben.
„Sie lächeln ja schon wieder ganz gut links. Und rechts.“ sagt Beware professionell aufmunternd.
Die beiden Schönheiten öffnen nun endlich und ganz ohne Scheu ihre Kittel und ziehen sich, allerdings von ihrem Zuschauer abgewandt, um.
Während Peter Carsten große Augen und einen langen Hals bekommt, sagt Geli-Inchen zu Beware: „Du, ich glaube das Stück für die Weihnachtsfeier wird ein ganz großer Knaller.“
Und zu Peter Carsten gewandt meint sie:
„Wir haben jetzt Feierabend und sind mit dem Intendanten mausbacher im Eiscafe gegenüber verabredet. Die anderen wissen noch gar nichts davon. Hoffentlich findet er unsere „Schlossklinik LaVie“ auch so toll. Dann kommen wir ins Fernsehen, oder nach Mausiwood.“
Peter Carsten steht noch lange nachdenklich am Fenster seines Zimmers und sieht hinüber zur Eisdiele, deren Neonreklame bunt in der grauen Abenddämmerung leuchtet.
Auf den Fluren ist es wieder ruhiger geworden. Nur das übliche Klappern der geschäftigen Schwestern hallt durch das Haus.
Sein Zimmergenosse schnarcht liebenswert und extrem friedlich.
Die Tür geht auf, und die junge blonde Schwester, die so ähnlich aussieht wie Beatrice Egli, tritt ein, ein Tablett balancierend und sehr süß lächelnd.
Er spürt heimlich wieder seinen – halt, das ist nicht der Mundwinkel – hochgehen.
Trotzdem ist Peter Carsten heute irgendwie beinahe fast ganz froh, dass ihr Kittel verschlossen bleibt.